S. Redolfi: Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers

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Titel
Die verlorenen Töchter. Heirat als Strafe: Rechtliche Situation und Lebensalltag ausgebürgerter Schweizerinnen bis 1952


Autor(en)
Redolfi, Silke Margherita
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Preis
€ 48,00
von
Dominique Lysser

Mehr als 85’000 Schweizerinnen verloren zwischen 1885 und 1965 aufgrund der sogenannten Heiratsregel das Schweizer Bürgerrecht. Wie es dazu kam und welche Folgen der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers für die betroffenen Frauen hatte, untersucht Silke Margherita Redolfi in ihrer engagierten Basler Dissertation. Dabei stehen die Schicksale der Betroffenen im Zentrum. Die Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bilden sowohl methodischen Zugang als auch inhaltliche Basis ihrer Forschung, die die Autorin in Anlehnung an Marc Blochs Apologie der Geschichtswissenschaft als «Beitrag zu einer Wissenschaft, die das Experiment wagt» (S. 20), versteht. Ein Experiment, das Redolfi im Grossen und Ganzen geglückt ist.

Die Autorin beschreibt die Geschichte des weiblichen Bürgerrechts in der Schweiz seit dem ausgehenden 19. bzw. beginnenden 20. Jahrhundert bis zur Wiedereinbürgerungsaktion von 1953 in drei Teilen. Als theoretischen Zugang wählt Redolfi Niklas Luhmanns Systemtheorie, in der gesellschaftliche Veränderung als eine Verschiebung der «Sinngrenze» zwischen Umwelt und System artikuliert wird. Das gewandelte Verständnis weiblicher Staatsbürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist dabei das Ergebnis erfolgreicher Intervention der Umwelt (Frauenverbände, Politiker und Juristen) in die Systeme des Rechts und der Behörden.

Von den 21 unterschiedlich langen Kapiteln fungieren fünf als Exkurse mit episodenhaftem Charakter. Im ersten Teil widmet sich Redolfi der Beziehung von Schweizer Bürgerinnen zu Staat und Recht. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie dabei der Entwicklung der Heiratsratsregel, die sich bereits im 19. Jahrhundert als Gewohnheitsrecht etabliert hatte und erst vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs durch den notrechtlichen Bundesratsbeschluss von 1941 verschriftlicht, verschärft und in den Dienst der «geistigen Landesverteidigung» gestellt wurde. Der Beginn des ordentlichen legislatorischen Entstehungs- und Diskussionsprozesses, der sich mit der Rechtmässigkeit der Heiratsregel auseinandersetzte, verortet Redolfi im Jahr 1952 mit der Revision des Bürgerrechtsgesetzes. Ihre Darstellung des juristischen Diskurses zeigt eindrücklich auf, wie eine zutiefst patriarchale Familien- und Staatsvorstellung das Denken zeitgenössischer Rechtsgelehrter und Beamter wie Walter Burckhardt (1971–1939) oder Max Ruth (1877–1967) prägte. Frauen wurde keine bürgerrechtliche Eigenständigkeit zuerkannt und ihre Anbindung zum Staat stand in völliger Abhängigkeit vom Ehemann.

Was diese defizitäre Definition des Staatsbürgerrechts im Alltag von Betroffenen bedeutete, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, thematisiert Redolfi im zweiten Teil ihrer Dissertation. Quellengrundlage bilden 24 Interviews, welche die Autorin zwischen 2005 und 2010 mit Direktbetroffenen und Kindern von Müttern, die das Schweizer Bürgerrecht verloren hatten, geführt hat. Ergänzt und verdichtet werden die Interviews mit Lebensbeschreibungen, Familiengeschichten sowie behördlichen Akten. Dabei analysiert Redolfi drei unterschiedliche Gruppen: Frauen, die nach der Heirat in der Schweiz lebten, frühere Schweizerinnen im Ausland und Jüdinnen schweizerischer Herkunft. Ihre Darstellung zeichnet ein komplexes Bild der Schweizer Politik und Behördenpraxis im Spannungsfeld der gegensätzlichen Interessen von Bund und Kantonen bzw. Gemeinden und offenbart eine von Ängsten vor jüdischer «Überfremdung» geprägten Bürgerrechtspolitik – mit unterschiedlichen, teilweise tödlichen Folgen für die betroffenen Frauen und deren Kinder, wie Redolfi am Fallbeispiel der Schweizer Jüdin Lea Berr ausführlich darstellt. Berr verlor durch ihre Heirat mit dem Franzosen Ernest Berr das Schweizer Bürgerrecht. Das Ehepaar lebte in Frankreich, als 1942 die Deportationen in die Vernichtungslager einsetzten. Der Verlust des Bürgerrechts führte dazu, dass die Familie keinen diplomatischen Schutz der Schweiz beanspruchen konnte. 1944 wurde Lea Berr zusammen mit ihrem Sohn Alain in Auschwitz ermordet.

Der dritte Teil des Buches handelt schliesslich von der politischen Lobbyarbeit und dem unermüdlichen Engagement der Frauenvereine für die Besserstellung der Schweizerinnen im Bürgerrecht sowie der Wiedereinbürgerungsaktion von 1953. Berichte und Bildreportagen über die Lebenssituation von ehemaligen Schweizerinnen, die als «Fremde im eigenen Land» (S. 386) lebten, sensibilisierten anfangs der 1950er Jahre eine breitere Öffentlichkeit für das bürgerrechtliche System der Schweiz und die frauendiskriminierenden Wirkungen der «Heiratsregel». Diese Dokumentationen weckten grosses mediales Interesse und wurden vom Bund Schweizer Frauenvereine BSF sowie dem Katholischen Frauenverbund SKF gezielt im Kampf um das neue Bürgerrechtsgesetz von 1952 eingesetzt. Als wichtige Brückenbauerin zwischen SKF und BSF und als Schlüsselfigur in der Auseinandersetzung um die Durchsetzung der sogenannten Optionsregel würdigt Redolfi die katholische St. Galler Juristin und Publizistin Lotti Ruckstuhl (1901–1988). Anhand der Argumentationslinien von Frauenverbänden, Politikern und Juristen sowie Juristinnen zeigt Redolfi auf, wie sich in der Nachkriegszeit eine neue Idee weiblicher Staatsbürgerschaft etablierte, die die Frauen als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft anerkannte und ihre Stellung im Staat verankerte, ohne ihnen allerdings das Frauenstimmrecht oder bürgerrechtliche Gleichstellung zuzugestehen. Mehr als 32’000 frühere Schweizerinnen stellten 1953 einen Antrag auf Wiedereinbürgerung. Ein unbeschränkter Rechtsanspruch bestand allerdings nicht.

Für ihre Dissertation hat Silke Redolfi einen so umfangreichen wie vielfältigen Quellenkorpus bearbeitet. Ihre detaillierte Rekonstruktion der langwierigen politischen Aushandlungen und juristischen Erwägungen in der Frage um das weibliche Bürgerrecht macht die Lektüre trotz sorgsamer Leserinnenführung stellenweise sehr anspruchsvoll. Die Exkurse lenken teilweise vom Hauptnarrativ der Arbeit ab, verweisen aber gleichzeitig auch auf wichtige Forschungsfragen, denen sich die Geschichtswissenschaft in naher Zukunft unbedingt noch annehmen sollte. Ihre zahlreichen Fallbeispiele verdeutlichen die Komplexität dieses dunklen Kapitels der Schweizer Rechtsgeschichte und illustrieren die Differenz zwischen juristischer Theorie und behördlicher Praxis. Dass dabei die betroffenen Personen sowie einzelne Handlungsträger gleichsam zu Wort kommen, ist eine Stärke von Redolfis wissenschaftlicher Arbeit. Mit ihrer geschlechterspezifischen Perspektive auf die Entwicklung der schweizerischen Staatsräson und der Funktion des weiblichen Bürgerrechts im 20. Jahrhundert schliesst Silke Redolfis Dissertation eine klaffende Forschungslücke.

Zitierweise:
Lysser, Dominique: Rezension zu: Redolfi, Silke Margherita: Die verlorenen Töchter. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat eines Ausländers. Rechtliche Situation und Lebensalltag ausgebürgerter Schweizerinnen bis 1952, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 372-373. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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